Ebenso wie im zuvor entstandenen Notturno galt es auch hier, dem Anachronismus eines „Konzerts“ für Solo und Orchester neue Funktionen abzugewinnen; Funktionen, welche sich über das Klangliche hinaus – oder gar am Klanglichen vorbei – auf die Realistik der instrumentalen Aktionen beziehen. Erfahrungsgemäß ermöglicht – und unter gewissen Bedingungen veranlaßt – jeder Klang anhand seiner besonderen Eigenschaften beim Hörer ganz prosaische Rückschlüsse auf die konkrete Situation und den mechanischen Prozeß, der ihn hervorgebracht hat. Ein hoher Horn-Ton beispielsweise mag im tonalen Zusammenhang als konsonanter oder dissonanter Beitrag, in einem außertonalen Bereich möglicherweise als „emanzipierte Klangfarbe“ erfahren werden; eine weitere, im alltäglichen Leben selbstverständliche Möglichkeit aber wäre die, ihn zur Kenntnis zu nehmen und sich bewußt zu machen als direktes Resultat einer charakteristischen physischen Anstrengung unter bestimmten Bedingungen. Diesen prosaischen Aspekt des Gehörten nicht zu verdecken oder zu verwischen, seine im Hinblick auf irgendwelche ästhetischen Utopien übliche Verdrängung aus dem Kommunikationsprozeß möglichst zu verhindern, bildete einen die Kompositionstechnik bestimmenden Impuls bei der Arbeit an diesem Stück.
Instrumentale Verfremdung, beliebter Stein des Anstoßes beim Publikum und auch bei manchen Spielern; der erstickte Schlag, die gepreßte Saite, der tonlose Luftstoß: Sie bedeuten in solchem Zusammenhang nicht surrealistischen Gag oder aggressive Provokation, sondern logische Integration des gesamten verfügbaren Klang- und Geräuschrepertoires übers bislang Salonfähige hinaus, und sie dienen einem Schönheitsbegriff, der das Tabu der Gewohnheit durchbricht und sich orientiert an der Reinheit und strukturellen Klarheit der klingenden Situation als energetisch bestimmtem Feld.
Das Solo-Schlagzeug als sinnfälligstes – auch augenfälligstes – Medium solcher Klangrealistik, der es darum geht, gerade die äußere mechanische Kausalität, die einem Klang zugrunde liegt, in die Erfahrung und Reflexion einzubeziehen, spielt in dieser Musik nicht einfach die Haupt-, sondern vielmehr die Schlüsselrolle.
(Helmut Lachenmann, 1969)
CDs/LP:
Christian Dierstein, Staatsorchester Stuttgart, cond. Lothar Zagrosek
CD col legno WWE 20 041 und 20511
Michael W. Ranta, Radio-Sinfonieorchester Frankfurt, cond. Lukas Foss
LP Harmonia Mundi DMR 1013-15
Michael Ranta (percussion), RSO Frankfurt, cond. Lukas Foss
CD BMG 74321 73550 2
Hubert Zemler (percussion), Polish National Radio Symphony Orchestra Katowice, cond. Alexander Liebreich
CD polmic 116
Bibliography:
Häcker, Karsten: Versuch über den Strukturklang. „Air“ von Helmut Lachenmann, in: MusikTexte 67/68 (1997), S. 95-105
Über Musik nachdenken / Thinking about Music. Helmut Lachenmann im Gespräch mit Christian Hommel und Roland Diry, in: Ensemble Modern Magazin Nr. 42 (2015/2), pp. 20-27.
Nonnenmann, Rainer: Music with Images – The Development of Helmut Lachenmann's Sound Composition Between Concretion and Transcendence, in: Helmut Lachenmann – Music with matches, hrsg. von Dan Albertson, Contemporary Music Review 24 (2005), Vol. 1, pp. 1-29.
ders.: Das Klingen des Stummen – Überformungen von Sehen und Hören am Beispiel auskomponierter Soli für Dirigenten, in: Die Musikforschung 71 (2018), Heft 1, pp. 43-66.
Schweitzer, Benjamin: “Ströme durch die Konvention jagen” – Some Remarks About the Use of Conventions and Their Modification in Lachenmann's Orchestral Works from 1969 to 1989, in: Helmut Lachenmann – Inward Beauty, hrsg. von Dan Albertson, Contemporary Music Review 23 (2004), Heft 3/4, pp. 153-159.
Toop, Richard: Concept and Context: A Historiographic Consideration of Lachenmann's Orchestral Works, in: Helmut Lachenmann – Inw
- ISMN: 9790004208601 (M004208601)